October 11, 2025
Samstagsfrage: Länderfokus Mongolei - jedes Mal neue Kandidat:innen

Länderfokus Mongolei: Jedes Mal neue Kandidaten

Die Mongolei hat ein faszinierendes Wahlsystem entwickelt, das einzigartige demokratische Innovationen mit strikten Partizipationsanforderungen verbindet. Das bemerkenswerteste Element ist die Neuwahl-Regelung mit neuen Kandidaten, die bei Nicht-Erreichen bestimmter Quoren greift und damit eine der demokratischsten, aber auch rigidesten Wahlordnungen der Welt schafft.

Das mongolische Quorum-System: Doppelte Legitimation erforderlich

Die Mongolei praktiziert ein doppeltes Quorum-System, das sowohl Wahlbeteiligung als auch Kandidatenunterstützung voraussetzt. Bei Präsidentschaftswahlen müssen zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllt werden:

Erstes Quorum: Mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten müssen ihre Stimme abgeben. Liegt die Wahlbeteiligung darunter, ist die gesamte Wahl ungültig.

Zweites Quorum: Der gewählte Kandidat muss mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten. Erreicht niemand die absolute Mehrheit, findet eine Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten statt.

Die revolutionäre Neuwahl-Regelung

Das Besondere am mongolischen System: Wird auch in der Stichwahl keine absolute Mehrheit erreicht oder liegt die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent, wird die gesamte Wahl für ungültig erklärt und eine Neuwahl mit völlig neuen Kandidaten angesetzt. Die bisherigen Bewerber:innen sind von der Neuwahl ausgeschlossen.

Historischer Präzedenzfall 2017: Bei der Präsidentschaftswahl setzte sich Battulga Khaltmaa von der Demokratischen Partei mit 55,15 Prozent gegen Enkhbold Miyegombo von der Mongolischen Volkspartei durch. Bei nur 14.000 Stimmen weniger für Battulga wäre die Wahl ungültig gewesen und hätte mit neuen Kandidaten wiederholt werden müssen.

Das mongolische Parlamentswahlsystem: Zwischen Mehrheit und Verhältnis

Das Große Staats-Khural (Parlament) wurde 2024 von 76 auf 126 Abgeordnete erweitert. Das Wahlsystem kombiniert verschiedene Elemente:

Aktuelles Mischsystem (seit 2024)

Direkte Wahl: Ein Teil der Abgeordneten wird in 13 Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlprinzip gewählt. Kandidat:innen müssen mindestens 28 Prozent der Stimmen in ihrem Wahlkreis erreichen.

Proportionale Vergabe: Weitere Sitze werden über geschlossene Parteilisten nach dem Verhältniswahlsystem vergeben.

Systemwandel: Von Mehrheit zu Mischung

Die Mongolei experimentiert kontinuierlich mit ihrem Wahlsystem: Bis 2012 wurden 48 Abgeordnete nach Mehrheitswahl und 28 über Parteilisten gewählt. 2016 stellte das Land komplett auf reines Mehrheitswahlsystem um. 2024 kehrte es zum Mischsystem zurück.

Kandidatenrotation: Strukturelle Erneuerung der Politik

Präsidentschaftswahlen: Einmal-Regelung verschärft

Die Verfassungsreform 2019 führte eine Ein-Amtszeit-Regel für Präsident:innen ein. Präsident:innen können nur noch eine sechsjährige Amtszeit absolvieren. Diese Regelung gilt rückwirkend für bereits gewählte Präsident:innen.

Praktische Auswirkung: Der 2017 gewählte Präsident Battulga konnte 2021 nicht zur Wiederwahl antreten, obwohl seine erste Amtszeit vor der Verfassungsänderung begann. Das Verfassungsgericht bestätigte diese Auslegung.

Nominierungsverfahren: Nur Parlamentsparteien zugelassen

Kandidatenaufstellung erfolgt ausschließlich durch Parlamentsparteien. Unabhängige Kandidat:innen oder Parteien ohne Parlamentssitze können keine Präsidentschaftskandidaten nominieren. Diese Regelung beschränkt die Kandidatenvielfalt erheblich.

Nominierungsfrist: Parteien haben nur drei Tage für die Kandidatenaufstellung, und zwar genau 40 Tage vor der Wahl. Die Registrierungsfrist beträgt weitere drei Tage. Diese kurzen Fristen erschweren umfassende Kandidatenvorbereitung.

Parlamentswahlen: Kandidatenvielfalt und politische Erneuerung

2024: Rekordteilnahme und Koalitionsregierung

Bei den Parlamentswahlen 2024 kandidierten 23 Parteien, 2 Koalitionen und mehrere Dutzend unabhängige Kandidat:innen. Insgesamt bewarben sich über 1.000 Personen um die 126 Parlamentssitze.

Die Mongolische Volkspartei (MPP) gewann 68 Sitze, die Demokratische Partei 42 Sitze und die HUN-Partei 8 Sitze. Erstmals seit acht Jahren entstand eine Koalitionsregierung.

Kandidatenstrategie: Experten statt Politiker:innen

Die MVP setzte auf eine revolutionäre Listenstrategie: Die ersten zehn Listenplätze gingen an Ingenieur:innen, Ärzt:innen und Lehrer:innen anstatt an etablierte Politiker:innen. Gleichzeitig müssen alle bekannten MVP-Politiker:innen direkt in Wahlkreisen kandidieren und können sich nicht über sichere Listenplätze absichern.

Diese Strategie bringt "frischen Wind" ins Parlament und zwingt Amtsinhaber:innen, sich aktiv der Wähler:innengunst zu stellen.

Quotenregelungen: Strukturelle Diversität

Geschlechterquote im Parlament

Gesetzlich vorgeschrieben: 32 der 126 Parlamentssitze müssen an Frauen vergeben werden. Dies entspricht einer Quote von 25,4 Prozent und liegt über dem internationalen Durchschnitt.

Parteigründung: Ein-Prozent-Hürde ab 2028

Ab 2028 benötigen neue Parteien die Unterstützung von mindestens einem Prozent der Wahlberechtigten für ihre Gründung. Bei etwa 2,2 Millionen Wahlberechtigten entspricht dies 22.000 Unterstützer:innen. Diese Regelung soll die Parteienlandschaft konsolidieren.

Internationale Einordnung und Bewertung

OSZE-Beobachtung: Demokratie mit Schwächen

Die OSZE attestiert der Mongolei grundsätzlich freie und faire Wahlen, kritisiert aber mehrere restriktive Elemente:

Übermäßige Kandidatenrestriktionen: Nur in der Mongolei geborene Personen mit mongolischen Eltern können Präsident werden. Die Residenzpflicht beträgt fünf Jahre, das Mindestalter wurde auf 50 Jahre angehoben.

Schuldenhürden: Kandidat:innen mit gerichtlich bestätigten Schulden oder Steuerrückständen sind ausgeschlossen. Dies kann zu willkürlichen Ausschlüssen führen.

Korruptionsvorwürfe: Bereits Anklageerhebung wegen Korruption führt zum Kandidatenausschluss, ohne Verurteilung abzuwarten.

Vergleich mit westlichen Demokratien

Das mongolische System ist strenger als die meisten westlichen Demokratien: Die USA 2016 hätten nach mongolischen Regeln eine Neuwahl mit neuen Kandidaten durchführen müssen, da weder Donald Trump noch Hillary Clinton mehr als 50 Prozent der Stimmen erreichten.

Aktuelle Herausforderungen: Zwischen Innovation und Restriktion

Korruptionsbekämpfung als Hauptthema

Korruption dominiert die mongolische Politik: 2022 verschwanden 400.000 Tonnen Kohle aus Staatsunternehmen, was zu Massenprotesten führte. Die Wähler:innen sehen Korruptionsbekämpfung als zentrales Wahlmotiv.

Wirtschaftliche Abhängigkeit

Die Mongolei exportiert fast alle Bergbauprodukte nach China und bezieht Treibstoff aus Russland. Diese doppelte Abhängigkeit von autoritären Nachbarn macht das Land verletzlich.

Demografische Herausforderungen

Mit 2,2 Einwohner:innen pro Quadratkilometer ist die Mongolei eines der am dünnsten besiedelten Länder der Welt. Die Urbanisierung konzentriert sich auf Ulaanbaatar, was zu ungleicher politischer Repräsentation führt.

Lessons Learned: Mongolische Demokratie-Innovation

Positive Aspekte

Echte Alternative für Wähler:innen: Das Neuwahl-System gibt Bürger:innen die Macht zur Kandidatenablehnung und erzwingt bessere Bewerber:innen.

Strukturelle Politikerneuerung: Die Ein-Amtszeit-Regel und Kandidatenrotation verhindern Machtkonzentration und fördern politische Erneuerung.

Hohe Legitimationsanforderungen: Das doppelte Quorum stellt sicher, dass gewählte Präsident:innen breite Unterstützung haben.

Kritische Punkte

Übermäßige Restriktionen: Zu strenge Kandidatenvoraussetzungen können qualifizierte Bewerber:innen ausschließen.

Systeminstabilität: Häufige Wahlsystemänderungen untergraben Verlässlichkeit und Planbarkeit.

Elitäre Tendenz: Nur Parlamentsparteien können Präsidentschaftskandidaten nominieren, was politische Outsider benachteiligt.

Die Mongolei praktiziert eine der innovativsten Demokratieformen der Welt: Das System der Neuwahl mit neuen Kandidaten gibt Wähler:innen einzigartige Macht über die Kandidatenauswahl und erzwingt hohe demokratische Legitimation. Die Kombination aus strikten Partizipationsanforderungen, struktureller Politikererneuerung und Geschlechterquoten schafft eine lebendige, aber auch restriktive Demokratie. Während das mongolische Modell wichtige Impulse für Demokratiereformen liefert, zeigt es auch die Grenzen übermäßiger Regulierung auf. Die Mongolei beweist: Demokratie kann experimentell und innovativ sein, muss aber das Gleichgewicht zwischen Legitimation und Zugänglichkeit wahren