Die Listenwahl ist ein fundamentales Wahlverfahren, bei dem Wähler:innen nicht für einzelne Kandidat:innen, sondern für vorgefertigte Wahllisten stimmen, die von Parteien oder Wählervereinigungen aufgestellt werden. Im Gegensatz zur Personenwahl steht hier die politische Richtung im Vordergrund, und die gewählten Vertreter:innen werden entsprechend dem proportionalen Stimmenanteil der Listen bestimmt.
Eine Listenwahl fasst alle Wahlsysteme zusammen, bei denen Kandidat:innen auf gemeinsamen Wahllisten einer Partei antreten und von den Wahlberechtigten nur im Rahmen dieser Liste gewählt werden können. Die Wähler:innen entscheiden sich für eine Gruppe von Kandidat:innen, deren Aufstellung in einer bestimmten Reihenfolge erfolgt.
Das zentrale Prinzip ist die Verhältniswahl: Die Anzahl der für eine Liste abgegebenen Stimmen bestimmt, wie viele Kandidat:innen dieser Liste als gewählt gelten. Dabei entscheidet die Reihenfolge auf der Liste (Listenplatz) entscheidend über die Wahlchancen der einzelnen Bewerber:innen.
Bei der starren Liste ist die Reihenfolge der Kandidat:innen von der Partei fest vorgegeben und kann von den Wähler:innen nicht beeinflusst werden. Der Wähler verfügt über eine Listenstimme, mit der er für die Liste als Ganzes stimmt. Die Mandate werden entsprechend der festgelegten Reihenfolge vergeben, beginnend mit dem Spitzenkandidaten.
Anwendung in Deutschland: Bundestagswahlen (Zweitstimme), die meisten Landtagswahlen und Europawahlen nutzen starre Listen. Die Landeslisten sind nicht veränderbar, und die Reihenfolge der Bewerber:innen steht fest.
Die offene Liste gewährt Wähler:innen maximale Flexibilität: Sie können ihre Stimmen nach Belieben auf Kandidat:innen verschiedener Listen verteilen (Panaschieren) und sogar neue Kandidat:innen einfügen oder vorhandene streichen. In der Schweiz erhalten Wähler:innen zusätzlich zu den Parteilisten einen leeren Stimmzettel, um sich selbst eine Wahlliste zusammenzustellen.
Charakteristika: Vollständige Wahlfreiheit, Möglichkeit zum Kumulieren (mehrfache Stimmvergabe an dieselbe Person) und Panaschieren (Stimmenverteilung über Listengrenzen hinweg).
Die lose gebundene Liste stellt einen Kompromiss dar: Wähler:innen müssen sich für eine Liste entscheiden, können aber innerhalb dieser Liste Einfluss nehmen. Dies geschieht durch Vorzugsstimmen für einen oder mehrere Bewerber:innen, wobei die Auswirkungen je nach Wahlrecht variieren.
Internationale Anwendung: In Österreich und den Niederlanden wird die von der Partei festgelegte Reihenfolge nur in bestimmten Fällen durchbrochen. In osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten wie der Slowakei, Polen und Tschechien überwiegen lose gebundene Listen.
Die deutsche Bundestagswahl kombiniert Personen- und Listenelemente in der sogenannten personalisierten Verhältniswahl. Die Zweitstimme ist eine klassische Listenwahl: Mit ihr wählen die Bürger:innen die Landesliste einer Partei, auf der die Kandidierenden in festgelegter Reihenfolge aufgeführt sind.
Funktionsweise: Die Zweitstimme entscheidet über das politische Kräfteverhältnis im Bundestag. Parteien erhalten so viele Abgeordnete, wie ihrem prozentualen Anteil an den Zweitstimmen entspricht. Allerdings müssen Parteien die Fünf-Prozent-Hürde überwinden oder mindestens drei Direktmandate gewinnen.
Neuerungen seit 2025: Die Wahlrechtsreform stärkte das Listenelement erheblich. Direktmandate werden nur noch vergeben, wenn sie durch Zweitstimmen gedeckt sind. Dies reduziert die Bedeutung der Personenwahl zugunsten der Listenwahl.
Bayern praktiziert ein hochflexibles Listensystem bei Kommunalwahlen: Wähler:innen haben so viele Stimmen, wie Gemeinderäte zu wählen sind. Sie können ganze Listen ankreuzen, einzelne Kandidat:innen kumulieren (bis zu drei Stimmen pro Person) und panaschieren (Stimmen auf verschiedene Listen verteilen).
Beispiel: In einer Gemeinde mit 24 zu wählenden Gemeinderäten hat jede:r Wähler:in 24 Stimmen. Diese können komplett einer Liste gegeben, auf einzelne Personen gehäuft oder über verschiedene Parteien gestreut werden.
Hessen bietet bei Kommunalwahlen die größte Flexibilität: Kumulieren (bis zu drei Stimmen pro Person), Panaschieren (Stimmenverteilung über alle Listen) und Streichen (unerwünschte Kandidat:innen ausschließen) sind möglich. Nicht vergebene Stimmen gehen automatisch an die bestplatzierten Kandidat:innen der angekreuzten Liste.
NRW kombiniert Personen- und Listenelemente: Mit einer Stimme wird gleichzeitig ein:e Direktbewerber:in im Wahlbezirk und die Reserveliste der entsprechenden Partei gewählt. Kumulieren und Panaschieren sind nicht möglich.
Die Europawahl erfolgt EU-weit nach dem Verhältniswahlsystem, aber mit unterschiedlichen Ausgestaltungen. Deutschland nutzt starre Listen ohne Vorzugsstimmen, während andere Mitgliedstaaten lose gebundene Listen bevorzugen.
Besonderheit: In nur sechs der 15 ursprünglichen EU-Mitgliedstaaten werden starre Listen verwendet. Die Mehrheit praktiziert lose gebundene Listen mit Vorzugsstimmen, was den Einfluss der Wähler:innen auf die Kandidatenauswahl stärkt.
Proportionale Repräsentation: Listenwahlen ermöglichen eine gerechte und proportionale Sitzverteilung, die den Wähler:innenwillen präzise abbildet. Alle Stimmen kommen zur Geltung, sodass auch kleinere Parteien Sitze erringen können.
Förderung von Diversität: Parteien können gezielt unterrepräsentierte Gruppen auf aussichtsreichen Listenplätzen platzieren und so Diversität fördern. Dies ist bei reinen Personenwahlen schwieriger durchsetzbar.
Stärkere Parteibindung: Gewählte Vertreter:innen haben eine stärkere Verbindung zu ihrer Partei und deren Programm, was politische Kontinuität und Verlässlichkeit fördert.
Schwächere Wähler:innenbindung: Die Verbindung zwischen gewählten Vertreter:innen und einzelnen Wähler:innen sowie deren Wahlkreis ist weniger direkt als bei Personenwahlen.
Parteiabhängigkeit: Kandidat:innen sind bei der Listenaufstellung stärker von der Parteiführung abhängig, was parteiinterne Demokratie einschränken kann.
Reduzierte Transparenz: Bei starren Listen haben Wähler:innen weniger Einfluss auf die tatsächliche Zusammensetzung des Parlaments.
Europa zeigt eine große Vielfalt bei Listenwahlen: Belgien, Niederlande und Österreich nutzen Vorzugsstimmen zur Modifikation der Listenreihenfolge. Skandinavische Länder kombinieren oft offene Listen mit Parteilisten, um sowohl Kandidat:innen- als auch Parteienwahl zu ermöglichen.
Frankreich wechselte für Europawahlen von der absoluten Mehrheitswahl zur Verhältniswahl über, was die Bedeutung von Listen stärkte. Großbritannien gab das traditionelle "First Past the Post" System für Europawahlen zugunsten der Verhältniswahl auf.
Die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten für Listenwahlen: Online-Voting-Systeme können komplexe Kumulier- und Panaschier-Verfahren benutzer:innenfreundlich abbilden und dabei die Wahlgeheimnis gewährleisten. Blockchain-Technologien können die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Listenwahlverfahren erhöhen.
Partizipative Ansätze gewinnen an Bedeutung: Vorwahlen, Online-Abstimmungen über Listenreihenfolgen und bürgerbeteiligten Nominierungsverfahren können die demokratische Legitimität von Listen stärken.
Listenwahlen sind das Rückgrat der modernen Verhältniswahl und ermöglichen eine präzise Abbildung des Wähler:innenwillens. Während starre Listen Parteienstabilität und programmatische Klarheit fördern, bieten offene und lose gebundene Listen mehr Wahlfreiheit und Kandidat:inneneinfluss. Die Zukunft liegt in flexiblen Hybridmodellen, die die Vorteile verschiedener Ansätze kombinieren und durch digitale Technologien neue Partizipationsmöglichkeiten schaffen