Die Vergabe der 630 Bundestagsmandate erfolgt seit der Bundestagswahl 2025 nach einem grundlegend reformierten Wahlrecht, das die jahrzehntelange Aufblähung des Parlaments beendet. Das neue System basiert auf einer klaren Zweitstimmenpriorität und schafft das komplexe System aus Überhang- und Ausgleichsmandaten ab, das den Bundestag zuvor auf bis zu 736 Abgeordnete anwachsen ließ.
Die Mandatsvergabe erfolgt in einem zweistufigen Verfahren, das maximale Proportionalität bei begrenzter Parlamentsgröße gewährleistet:
In der Oberverteilung wird zunächst ermittelt, wie viele der 630 Sitze jeder Partei bundesweit nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. Dabei kommt das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren zur Anwendung, das eine besonders proportionale Sitzverteilung gewährleistet.
Beispielrechnung: Erreicht eine Partei 25 Prozent der bundesweiten Zweitstimmen, erhält sie 25 Prozent von 630 Sitzen, also 157 Mandate. Diese Sitzzahl steht fest und kann nicht durch Direktmandate überschritten werden.
In der Unterverteilung werden die einer Partei zustehenden Sitze proportional auf die 16 Landeslisten der Partei verteilt. Entscheidend ist dabei der jeweilige Landesanteil der Partei an ihren bundesweiten Zweitstimmen.
Beispiel: Hat die Partei bundesweit 157 Sitze erhalten und in Bayern 20 Prozent ihrer Zweitstimmen erzielt, bekommt die bayerische Landesliste 31 Mandate (20% von 157).
Das revolutionäre Element der Reform betrifft die Direktmandate: Wahlkreisgewinner:innen ziehen nicht mehr automatisch in den Bundestag ein, sondern nur wenn ihr Mandat durch das Zweitstimmenergebnis gedeckt ist.
Zweitstimmendeckung bedeutet: Eine Partei kann nur so viele Direktkandidat:innen in den Bundestag entsenden, wie ihr nach der Unterverteilung in dem entsprechenden Bundesland zustehen. Gewinnt sie mehr Wahlkreise, als sie Landeslisten-Sitze hat, gehen die Direktkandidat:innen mit den schlechtesten relativen Erststimmen-Ergebnissen leer aus.
Konkret: Steht einer Partei in Nordrhein-Westfalen nach der Unterverteilung nur 40 Mandate zu, sie gewinnt aber 45 Wahlkreise, erhalten nur die 40 stimmenstärksten Direktkandidat:innen ein Mandat. Die fünf schwächsten Wahlkreissieger:innen bleiben draußen.
Entscheidend für die praktische Umsetzung: Gewählte Direktkandidat:innen werden bei der Vergabe der Landeslisten-Sitze vorrangig behandelt. Erst die nicht durch Direktmandate besetzten Sitze werden an Listenkandidat:innen vergeben.
Überhangmandate entstanden im alten System, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden. Diese "zusätzlichen" Sitze durfte sie behalten.
Um die Proportionalität zu wahren, erhielten andere Parteien Ausgleichsmandate, wodurch der Bundestag immer weiter anwuchs. Bei der Wahl 2021 führten 34 Überhangmandate zu 104 Ausgleichsmandaten.
Das neue Wahlrecht eliminiert diese Problematik radikal: Keine Partei kann mehr Sitze erhalten, als ihr nach den Zweitstimmen zustehen. Der Bundestag hat immer exakt 630 Mitglieder, unabhängig vom Wahlausgang.
Parteien müssen mindestens fünf Prozent der bundesweiten Zweitstimmen erreichen, um bei der Sitzverteilung berücksichtigt zu werden. Diese Sperrklausel soll die Regierungsbildung erleichtern und Parteienzersplitterung verhindern.
Eigentlich sollte die Grundmandatsklausel abgeschafft werden. Sie ermöglichte Parteien den Bundestagseinzug trotz Verfehlens der Fünf-Prozent-Hürde, wenn sie drei Direktmandate gewannen.
Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Abschaffung jedoch für verfassungswidrig. Daher gilt 2025 weiterhin: Parteien mit drei oder mehr Direktmandaten ziehen proportional zu ihren Zweitstimmen in den Bundestag ein.
Parteiunabhängige Bewerber:innen stellen eine Besonderheit dar: Sie erhalten bei Wahlkreissieg automatisch ein Mandat, das zusätzlich zu den 630 Sitzen kommt. Diese Sitze werden nicht von anderen Parteien abgezogen.
Zur Bundestagswahl 2025 bewerben sich nur noch 4.506 Kandidat:innen um die 630 Sitze. 2021 waren es 6.211 Bewerber:innen für 736 Mandate. Dies spiegelt die Erwartung wider, dass sich der politische Wettbewerb intensivieren wird.
Die Reform zwingt Parteien zu strategischer Neuausrichtung: Zweitstimmen werden wichtiger als je zuvor, da sie allein über die Mandatszahl entscheiden. Gleichzeitig müssen Parteien in Wahlkreisen mit schwächeren Direktkandidat:innen fürchten, dass diese trotz Wahlkreissiegs nicht in den Bundestag einziehen.
Die CDU/CSU warnt vor "verwaisten" Wahlkreisen, deren Gewinner:innen nicht in den Bundestag einziehen. Dies könnte die regionale Repräsentation schwächen und das Vertrauen in das Wahlsystem untergraben.
Das deutsche System bleibt international einzigartig: Die Kombination aus personalisierten Elementen (Direktwahl) und strikter Proportionalität (Zweitstimmendominanz) bei fester Parlamentsgröße gibt es in dieser Form nirgends sonst.
Neuseeland praktiziert ein ähnliches System, aber mit Überhangmandaten. Schottland kennt zwar gedeckte Direktmandate, aber mit anderen Berechnungsmethoden.
Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert die Reform grundsätzlich, monierte aber die Abschaffung der Grundmandatsklausel. Die Richter:innen sehen das Verhältniswahlprinzip gestärkt, warnen jedoch vor einer zu starken Schwächung des Personenwahlprinzips.
Die Bundestagswahl 2025 markiert einen Paradigmenwechsel: Erstmals seit 1949 dominiert das Verhältniswahlprinzip vollständig über das Mehrheitswahlprinzip. Die Zweitstimme wird zur eigentlichen "Hauptstimme", während Direktmandate nur noch bei entsprechender Zweitstimmendeckung vergeben werden. Diese Reform löst das Problem der Parlamentsaufblähung, schafft aber neue Herausforderungen für die regionale Repräsentation und das Wähler:innenvertrauen. Der Bundestag wird planbarer, aber möglicherweise weniger bürgernah