In Deutschland können über 40 Millionen Arbeitnehmer:innen ihre demokratischen Grundrechte nicht nur bei Bundestags- oder Landtagswahlen ausüben, sondern auch direkt am Arbeitsplatz: durch Betriebsratswahlen. Doch obwohl das Betriebsverfassungsgesetz seit 1952 in jedem Betrieb mit mindestens fünf Beschäftigten die Wahl eines Betriebsrats vorsieht, arbeiten heute nur noch 42 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit Mitbestimmung. Diese Entwicklung bedroht nicht nur die Arbeitsplatzdemokratie, sondern schwächt das gesamte demokratische Gefüge der Bundesrepublik.
Betriebsratswahlen sind weit mehr als ein innerbetrieblicher Vorgang: Sie sind gelebte Demokratie am Arbeitsplatz und prägen das politische Bewusstsein von Millionen Menschen. Eine aktuelle Studie der Universität Trier belegt: Beschäftigte mit Betriebsrat entwickeln ein 23 Prozent höheres politisches Interesse als ihre Kolleg:innen ohne Mitbestimmung. Wer sich selbst im Betriebsrat engagiert, zeigt sogar 30 Prozent mehr politisches Interesse.
Diese Zahlen sind kein Zufall: Betriebliche Mitbestimmung schult demokratische Fähigkeiten wie öffentliches Sprechen, Argumentieren und Kompromisse finden. Beschäftigte lernen, ihre Interessen zu artikulieren und kollektiv durchzusetzen. Die Auseinandersetzung mit arbeitsrechtlichen Fragen erhöht die Aufmerksamkeit für politische Themen insgesamt.
Das Wahlsystem für Betriebsräte ist präzise durchreguliert und orientiert sich an demokratischen Grundprinzipien:
Aktiv wahlberechtigt sind alle Arbeitnehmer:innen ab 16 Jahren, unabhängig von Staatsangehörigkeit, Beschäftigungsdauer oder Vertragsform. Dazu gehören auch Auszubildende, Teilzeitbeschäftigte, Leiharbeiter:innen (bei mehr als dreimonatigem Einsatz) und sogar Heimarbeiter:innen. Die Staatsbürgerschaft spielt keine Rolle: Auch Kolleg:innen ohne deutschen Pass können mitwählen.
Wählbar sind alle Beschäftigten ab 18 Jahren, die seit mindestens sechs Monaten dem Betrieb, Unternehmen oder Konzern angehören. Ausgenommen sind leitende Angestellte und Leiharbeiter:innen.
Je nach Betriebsgröße kommen drei verschiedene Wahlverfahren zur Anwendung:
Vereinfachtes Wahlverfahren (5 bis 100 Beschäftigte): Hier gilt zwingend die Personenwahl. Jede:r Wähler:in hat so viele Stimmen, wie Betriebsratsmitglieder zu wählen sind, und kann gezielt einzelne Kandidat:innen auswählen.
Normales Wahlverfahren (ab 101 Beschäftigte): Das Wahlsystem hängt von der Anzahl der eingereichten Vorschlagslisten ab. Bei mehreren Listen wird die Listenwahl (Verhältniswahl) durchgeführt, bei nur einer Liste die Personenwahl.
Besonderheit für mittlere Betriebe (101 bis 200 Beschäftigte): Wahlvorstand und Arbeitgeber können vereinbaren, das vereinfachte Wahlverfahren anzuwenden.
Betriebsräte sind keine zahnlosen Tiger, sondern verfügen über weitreichende Mitbestimmungsrechte:
Bei Arbeitszeiten, Überstunden, Pausen, Urlaubsplanung und Betriebsordnung hat der Betriebsrat ein echtes Mitbestimmungsrecht. Der Arbeitgeber kann diese Bereiche nicht einseitig regeln: Er benötigt die Zustimmung des Betriebsrats oder muss die Einigungsstelle anrufen.
Der Betriebsrat muss vor jeder Kündigung angehört werden: Eine Kündigung ohne diese Anhörung ist unwirksam. Bei Einstellungen, Versetzungen und Beförderungen hat er Mitspracherechte.
In größeren Unternehmen muss der Arbeitgeber den Betriebsrat über Geschäftslage, Investitionen und Personalplanung informieren. Bei Betriebsänderungen wie Standortschließungen oder Massenentlassungen sind Sozialpläne zu verhandeln.
Die Zahlen sind alarmierend: Während 1996 noch 49 Prozent der Betriebe über einen Betriebsrat verfügten, sind es heute nur noch 7 Prozent. Nur 42 Prozent aller Beschäftigten arbeiten in mitbestimmten Betrieben.
Union Busting: Vielerorts wird mit Kündigungsdrohungen und Einschüchterung alles darangesetzt, die Gründung eines Betriebsrats zu verhindern.
Prekäre Beschäftigung: Für Menschen in Leiharbeit, befristeten Verhältnissen oder Minijobs ist es viel schwieriger, sich in einem Betriebsrat zu engagieren.
Strukturwandel: Der boomende Dienstleistungssektor mit vielen kleinen Betrieben erschwert die Betriebsratsarbeit.
Bürokratie: Das veraltete Betriebsverfassungsgesetz macht Wahlen unnötig kompliziert.
Die Betriebsratswahlen 2026 könnten einen Wendepunkt markieren: Die neue Bundesregierung will Online-Wahlen für Betriebsräte ermöglichen. Im Koalitionsvertrag ist festgehalten: "Die Option, online zu wählen, soll im Betriebsverfassungsgesetz verankert werden".
Höhere Wahlbeteiligung: Online-Wahlen können mehr Beschäftigte zur Teilnahme motivieren, besonders in Schichtbetrieben und bei Außendienstmitarbeiter:innen.
Kostensenkung: Digitale Wahlen reduzieren Organisationsaufwand und Wahlkosten erheblich.
Barrierefreiheit: Online-Abstimmungen erleichtern die Teilnahme für mobilitätseingeschränkte und remote arbeitende Beschäftigte.
Damit Online-Wahlen 2026 möglich werden, braucht es bald eine gesetzliche Regelung. Anderenfalls verschiebt sich die erste digitale Betriebsratswahl auf den nächsten Wahlzeitraum.
Demokratie beginnt am Arbeitsplatz: Wer acht Stunden täglich in autoritären Strukturen arbeitet, entwickelt weniger demokratische Kompetenzen. Betriebliche Mitbestimmung schafft politische Selbstwirksamkeit und stärkt das Vertrauen in demokratische Prozesse.
Wirtschaftlicher Erfolg: Unternehmen mit Betriebsräten sind oft produktiver, innovativer und haben weniger Fluktuation. Mitbestimmung führt zu besseren Entscheidungen und höherer Arbeitszufriedenheit.
Gesellschaftliche Stabilität: Betriebsräte sind Schule der Demokratie: Sie bilden Führungskräfte für Politik, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft aus. Fritz Kraft, der 1945 die erste Betriebsratssitzung bei der späteren Salzgitter AG eröffnete, nannte Betriebsräte die "Pioniere, die das Fundament zum demokratischen Deutschland bauen sollen".
Die Betriebsratswahlen 2026 bieten die Chance, die Arbeitsplatzdemokratie zu revitalisieren. Die IG Metall setzt auf junge, weibliche und hochqualifizierte Kandidat:innen. Die SPD will Betriebsratsbehinderungen schärfer bestrafen und Wahlen vereinfachen.
Doch letztendlich liegt es an den Beschäftigten selbst: Wer mitbestimmen will, muss wählen oder noch besser selbst kandidieren. In einer Zeit, in der Populismus und Politikverdrossenheit die Demokratie bedrohen, sind starke Betriebsräte wichtiger denn je.
Betriebsratswahlen sind das unterschätzte Fundament der deutschen Demokratie. Sie schaffen nicht nur bessere Arbeitsbedingungen, sondern bilden demokratische Kompetenzen aus, die weit über die Werkstore hinauswirken. Der dramatische Rückgang der betrieblichen Mitbestimmung gefährdet sowohl die Arbeitsplatzdemokratie als auch die gesellschaftliche Stabilität. Die Wahlen 2026 bieten die historische Chance, diesen Trend umzukehren und die Mitbestimmung für das digitale Zeitalter fit zu machen. Demokratie beginnt am Arbeitsplatz und dort entscheidet sich auch ihre Zukunft